Alfred Hitchcocks “Psycho” - die “Mutter” aller Psychothriller? Selbst wenn man nicht in den Kanon der etablierten Kulturkritiker und Filmhistoriker einstimmen mag, so ist die Bedeutung und Nachhaltigkeit dieses 800.000 Dollar “teuren” Meisterwerks, welches in weiten Teilen auf den Hinterhöfen der Universal Studios gedreht wurde, dennoch als enorm einzustufen. “Psycho” ist ein Paradebeispiel für Manipulation, vervollkommnete den Begriff des Suspense und legte die Koordinaten für den Slasherfilm fest, lange bevor Herren wie John Carpenter oder Wes Craven sich seiner bemächtigten. Der Film beendete eine Mode der 50er-Jahre, als man in Hollywood mit Monsterfilmen um sich warf, deren nach Pappmaché ausschauende Schreckensgestalten mal Riesenspinnen, mal Killerechsen, oder irgendwelche anderen Viecher aus der reich bevölkerten (Film-)Fauna waren.
Das “Monster” in “Psycho” war ein Jedermann ohne Spezialkräfte; und gerade im Auf-den-Grund-gehen eines solchen bzw. der Identifikation mit einem Kerl wie Norman Bates (Anthony Perkins), einem Normalo, der jedoch von Geisteskrankheit beherrscht und seiner bereits mausetoten Mutter zu Taten gezwungen wird, auf die er (sein gemäßigtes “Dr. Jekyll”-
Ich) keinen Einfluss mehr hat, kommunizierte der Film mit unseren Urängsten. Der Angst nicht nur vor dem Verlust der Gewalt über sein eigenes Tun und dem Begehen eines Verbrechens im Affekt, sondern auch der Angst davor, selbst einem Psy
chopathen in die Hände zu fallen, der auf den ersten Blick vielleicht gar nicht als solcher erscheint.
Auf der anderen Seite die Identifikation mit einer armen Schluckerin wie Marion Crane (Janet Leigh). Sie, zu Beginn zu sehen im unschuldsweißen Büstenhalter im Schlafzimmer, und ihr Mann Sam Loomis (John Gavin) brauchen dringend Geld. Also unterschlägt sie die 40.000 Dollar, welche ihr Chef ihr anvertraut hat, und kehrt ihrer Heimat Phoenix mit dem Geld im Gepäck den Rücken. Marion, die Gelegenheitskriminelle - ein sich so oft wiederholendes Motiv in Hitchcocks Filmen (am konkretesten behandelt in “Marnie”) - und die Frage: Würde man selbst in der Not nicht genau so handeln. Marion fährt über die Landstraße; die Kamera ist in beunruhigender Konstanz auf ihr Gesicht gerichtet, wie sie stets panisch in den Rückspiegel schaut, ob ihr nicht ein Streifenwagen auf den Fersen ist oder sonst welche ihr feindlich gesinnte Personen. Hitchcock und die Paranoia des (Klein-)Bürgertums. Das schlechte Gewissen plagt Marion, und Bernhard Herrmanns nervöse Streicher scheinen ihr und uns zu bescheinigen, dass sie allen Grund dazu hat, sich schuldig vorzukommen. Solche dialogfreien Passagen besitzen in “Psycho” etwas subtil Bedrohliches.
Noch etwas anderes plagt Marion: die Müdigkeit. Einmal fährt sie rechts ran, weil ihr die Augen zufallen. Als ein Unwetter aufzieht, beschließt sie, in einem Motel einzuchecken. Dessen Besitzer Norman Bates ist zwar ziemlich schüchtern, aber irgendwie sympathisch. Von dessen Erzählungen über seine dominante Mutter, die angeblich in dem viktorianischen Herrenhaus nebenan wohne, nimmt Marion nur am Rande Notiz, ebenso von den ausgestopften Vögeln, die Bates` gesamtes Zimmer schmücken, und die den Eindruck erwecken, als könnten sie jederzeit zum Leben erwachen und sich auf die Gäste des Motels (ihre Beute) herabstürzen. Vor dem Schlafengehen will sie noch einmal duschen. Was folgt, ist der vielleicht berühmteste Mord, seit die Gebrüder Lumiere ihren Cinematographen zum Patent anmeldeten.
Hitchcock setzte die Manipulation über die Irritation der Gefühle des Publikums durch permanente Wechsel von Sympathie, Mitleid und Furcht auf technischer Ebene fort. Als Marion die Brause anlässt, wähnt sich der Zuschauer in Sicherheit, über die Schatten und Umrisse auf dem Duschvorhang eine weibliche Gestalt zu erkennen. In Wirklichkeit ersticht der in Frauenkleider gehüllte Norman Marion mit etlichen Messerstichen in Brust und Bauch. Es ist weder das Gesicht der “Mörderin”, noch das Eindringen des Messers in Marions Körper zu sehen, wenngleich der Zuschauer auch meint, dies zu sehen (ähnlich der Schlussszene in Polanskis “Rosemary`s Baby”, in der viele glaubten, das Teufelsbaby in der Wiege erkannt zu haben). Wieder begleitet von der Musik Bernhard Herrmanns sind lediglich einige Close-ups von Marions Körper und deren weit aufgerissenen Augen zu sehen, sowie Blut, welches sich mit dem in die Dusche plätschernden Wasser vermischt und den Abfluss hinabrinnt. Hitchcock verwendete anstatt von Kunstblut Schokoladensoße; doch ohnehin war es weniger die Explizitheit dieser Szene, die das Publikum damals so überrumpelte, sondern die durch Schnitt und Ton erzeugte Intensität, die nicht unwesentlich durch den Aspekt gesteigert wurde, dass die als Hauptperson eingeführte Janet Leigh nach gerade mal einem Drittel des Films von der Bildfläche “gelöscht” wurde.
Es geschieht schließlich noch ein zweiter Mord, der an Privatdetektiv Arbogast (Martin Balsam) auf der Treppe, wieder aus der (die Identität des Mörders/der “Mörderin“ vertuschenden) Perspektive Normans gefilmt, bis - ja bis Marions Liebhaber Sam und ihre Schwester Lila (Vera Miles) die Suche nach der Vermissten selbst in die Hand nehmen und sich zu Bates Motel aufmachen, wo sie auf ein schreckliches Geheimnis stoßen…
In vielen Punkten bricht “Psycho” mit den früheren Filmen Hitchcocks. In Schwarz-Weiß gedreht, einem Schwarz-Weiß, das sich sowohl am amerikanischen Film noir als auch am Expressionismus des deutschen Stummfilms der 20er-Jahre orientiert - Bates` Motel ragt, aus der Untersicht gefilmt, über dem Hügel hervor wie einst die auf künstlich und unreal getrimmten Bauten in Robert Wienes “Das Cabinet des Dr. Caligari” - versprüht der Film eine frostige Atmosphäre und Angespanntheit. Dazu drehte Hitch statt mit Stars mit seinem Cast aus der Fernsehserie “Alfred Hitchcock presents…” und einem knappen Budget, ging in der graphischen Darstellung von Gewalt weiter als er es sich jemals zuvor wagte und senkte damit die Zensur-Hemmschwellen auf lange Sicht, auch wenn die Gewaltszenen an sich äußerst spärlich gesät sind, aber eben eindrücklich - das Timing stimmt. Hitchcocks empathische Auseinandersetzung mit dem Sujet lässt sogar die empirische Ausformulierung der Symptomatiken eines bzw. der Genese zum psychopathischen Mörder mit gespaltener Persönlichkeit irgendwie schlüssig erscheinen. Wenn “Psycho” überhaupt an Strahlkraft verloren hat, dann nur, weil die für das Genre typischen überraschenden Wendungen, die das Publikum damals wie aus heiterem Himmel ereilten und aufwühlten, heute hinlänglich bekannt sind. Der Rückgriff auf “Psycho” als bevorzugte Schublade und Trickkiste für ihre eigenen Arbeiten zieht sich durch Generationen von Regisseuren von Brian de Palma bis zu John Carpenter, der dem großen Vorbild die Motivik und sexuelle Konnotation der Morde einer patriarchalischen Rächer-Seele für seinen “Halloween - Die Nacht des Grauens” entnahm.
Mit seinen früheren Arbeiten hat Hitchcocks “Psycho” seine suggestive Ader und seinen wie am Schnürchen gezogenen Spannungsbogen gemein. Alles, der Diebstahl, die Flucht, der Aufbau der Beziehung Normans zu Marion und die Fahndung nach der Vermissten, sogar die Morde erscheinen dabei als jeweils logische Folge der vorangegangenen Ereignisse und Entscheidungen. Norman “muss” Marion töten, weil er Gefühle für sie entwickelt, Gefühle, die von seiner eifersüchtigen Mutter nicht geduldet werden. Gleichzeitig deutet Hitchcock Norman Bates hier zur höheren Instanz um, die den Diebstahl der 40.000 Dollar sühnt. Der zweite Mord geschieht aus dem Willen zur Verschleierung des ersten Mordes sowie des “Familiengeheimnisses”. Genauso wie die Beseitigung von Marions Fluchtauto und ihres Hab und Guts. Und Hand aufs Herz: Wer ertappt sich nicht dabei, wie er mit Norman mitfiebert, dass der Wagen doch endlich vollständig unter der Wasseroberfläche versinken möge, bevor ihn jemand bei dieser Nacht-und-Nebel-Aktion erwischt?
Hitchcocks Spiel auf der Klaviatur der Empfindungen des Zuschauers funktioniert auch so hervorragend wegen seines “Anti-Bösewichts” Anthony Perkins. Als hageres, verklemmtes Muttersöhnchen mit manisch-gehetzten Augen und zerbrechlichen Gesichtszügen verkörpert sein Norman Bates sowohl das unschuldige Opfer wie auch den (von inneren Dämonen) besessenen Triebtäter, bei dem sich in jedem Moment “der Schalter umlegen” kann. Sowohl der Horror als auch die Tragik seiner Figur liegen in der völligen Machtlosigkeit gegenüber seinen im Inneren schlummernden niederen Instinkten begründet, die seinen Bezug zur Realität und sein Denken in Konsequenzen gnadenlos überformen. “Psycho” ist eine Art Alpha-Film für das moderne Schocker-Kino geworden, ohne den Filme wie “Das Schweigen der Lämmer”, “Sieben” oder eben “Halloween” wohl nicht denkbar gewesen wären.
Weitere Hitchcock-Filme:
Vertigo
Frenzy
Die Vögel
Im Schatten des Zweifels
Notorious - Berüchtigt