von Asokan Nirmalarajah
Der legendäre britische Filmemacher Alfred Hitchcock, der als Hollywood-Regisseur zur Kultfigur des Regie-Handwerks avancierte, war von jeher fasziniert von der Dualität, die er in allen Dingen fand und wiederholt in seinen Suspense-Filmen verhandelte. Durch die Verwendung und Dekonstruktion binärer Oppositionen vermochte er packende, komplexe Geschichten voll moralischer Ambiguitäten wie
Cocktail für eine Leiche (1948),
Verschwörung im Nordexpress (1951),
Vertigo (1958) und
Frenzy (1972) zu erzählen. Doch sein in dieser Beziehung interessantestes und streitbar bestes Werk bleibt die auf erstem Blick bescheidene Familientragödie
Shadow of a Doubt (1943, dt. Titel:
Im Schatten des Zweifels), die zwar die bekannten Vorlieben des Suspense-Meisters (glamouröse Stars, virtuos choreographierte Action-Sequenzen, kompetente, romantische Helden und appetitliche, mysteriöse Blondinen) missen lässt, aber von ihm selbst zum Lieblingsfilm erklärt wurde.
Basierend auf einer Story von Gordon McDonnell, entstand das famos durchkonstruierte Skript, an dem Hitchcock, seine Frau Alma Reville und mit dem Dramatiker Thornton Wilder („Our Town“) und der Kurzgeschichtenautorin Sally Benson („Meet Me in St. Louis“) ebenso zwei bekannte Experten amerikanisc
her Kleinstadt-Milieus kollaborierten, um die Geschichte von „Uncle Charlie“ auf die Leinwand zu bringen. Hitchcocks dualistische, komplexe Vision eines Amerikas, das seine dreckigen kapitalistischen Wurzeln hinter der sauberen Fassade der Familie versteckt, realisiert sich zur Vollendung in seinem sechsten US-Film, das zu Unrecht zu seinen weniger bekannten Werken zählt. Denn meisterhaft führt Hitchcock hier die Gegensätze zusammen, die das widersprüchliche, konfliktreiche Land strukturieren (Individualismus und Familie, Stadt und Land, Schmutz und Reinheit, Kriminalität und Gesetz, Laster und Tugend), um letztlich eine zutiefst berührende Geschichte über das ernüchternde Erwachsenwerden eines idealistischen Mädchens zu erzählen, dass erst mit familiären Dynamiken, trügerischen Träumen und sexuellem Erwachen hadern, und dann um ihre identitätsstiftende Familieneinheit kämpfen muss.
Im Zentrum der Handlung stehen zwei „Charlies“: Charles (Joseph Cotten) ist ein Serienkiller reicher Witwen, die er nach vollbrachter Arbeit beraubt, weshalb er auch den Namen „Merry Widow Murderer“ von der Presse bekam und von der Polizei gejagt wird. Charlie (Teresa Wright) ist ein junges Mädchen, das bei ihrer Familie wohnt und so gelangweilt ist vom ereignislosen Kleinstadtleben, dass sie sich über den als Besuch getarnten Hilferuf ihres Onkels Charlie aus der Großstadt freut. Doch die Freude über Charlies Besuch bei der skurrilen Familie – Vater Joseph Newton (Henry Tavers) vertreibt sich die Zeit damit, mit seinem Freund Herbie (Hume Cronyn) originelle Mordkomplotte für ihre Kriminalgeschichten zu schmieden, Mutter Emma (Patricia Collinge) verliert sich in Nostalgieschüben, und Charlies jüngere Geschwister sind besessen von Literatur und Mathematik – währt nicht lange, da taucht auch schon ein als Reporter getarnter Detektiv in Form des charmanten Jack Graham (Macdonald Carey) auf, in den sich die junge Charlie verliebt und der sie über die dunkle Seite ihres Onkels aufklärt. Ab diesem Zeitpunkt entbrennt eine psychologische Schlacht zwischen den zwei Charlies um die heile Welt der Kleinstadtfamilie, die sich der Gefahr durch den Onkel völlig unbewusst ist…
Dank einer beispiellos dichten Inszenierung, die Hitchcock-gerecht vor visuellen Metaphern strotzt, diese aber weit dezenter einsetzt als in seinen späteren, aggressiveren Werken, lokalisiert sich
Im Schatten des Zweifels fast unbemerkt im
film noir-Genre. Sind Schauplatz und Situationskomik der Kleinstadtfamilie noch Elemente des heimischen Lustspiels, so verhindert die Präsenz der düsteren
noir-Figur Onkel Charlies nicht nur das Genre-Equilibrium (visuell betont durch den bedrohlichen Schatten, den seine Bahn auf das sonnige Santa Rosa wirft, als er dort einfährt), sondern zeigt auch, dass hinter dieser sauberen Fassade der Kleinstadt auch ein potentieller Sündenpfuhl liegt. Durch diese
film noir-Ideologie wirft der Film einen subversiven Blick auf ein stereotypes Amerika und ergänzt es um all das, was für das Wohl der Familie unterdrückt oder kompensiert wird.
Auf jeder erdenklichen Ebene präzise ausgeklügelt, gehört
Im Schatten des Zweifels zu den meist ignorierten Klassiker des amerikanischen Kinos der 40er Jahre. So meisterlich wie streitbar nie danach vermochte Hitchcock in diesem Film Humor und Pathos, Spannung und Mitleid mitsamt sehr gehaltvoller Milieu-Studie und psychologisch tiefgründiger Charakterzeichnung zu einem Meisterwerk zu verbinden, das vor allem auch von der perfekten Besetzung lebt. Der so sympathisch wirkende Orson-Welles-Freund Joseph Cotten brilliert in einer psychologisch differenzierten, beängstigenden Darstellung des ebenso dämonischen wie herzlichen Onkel Charlie, während die schöne Theresa Wright den Wandel vom quirligen Mädchen zur desillusionierten Frau famos durchläuft. Die Nebendarsteller und deren Figuren sind gerade lustig genug, um nicht von den zentralen Figuren abzulenken, tragen aber bedeutend zu der familiären Atmosphäre des Films bei, die jeden Moment droht in ein Blutbad auszuschlagen. Die Form der Spannung wechselt dabei von sexueller zu antagonistischer hin und her und impliziert Inzest ebenso wie Mord als potentielle bzw. notwendige Übel für das Heile-Welt-Bild eines verschlafenen Amerikas.