Als der kleine Rabauke Carlos (Luis Castro) mit seiner Mutter und Großmutter in ein neues Haus zieht entdeckt er in einem Umzugskarton seiner Mutter ein Foto seines verstorbenen Vaters im Western-Outfit. Obwohl seine Mutter nicht über seinen Vater reden möchte, findet Carlos heraus, dass sein Vater zusammen mit seinem Großvater in Almeria, Spanien, Western gedreht hat. Anstatt mit seiner Schulklasse ins Skilager zu fahren, setzt er sich ab und begibt sich tatsächlich nach Almeria - und dort arbeitet wirklich sein Großvater Julian (Sancho Gracia) zusammen mit abgehalfterten Stuntmen um ein paar wenige Touristen mit einer Wild-West-Show zu unterhalten. Doch diese Relikte einer vergangenen Ära werden nicht nur von Geldmangel bedroht, sondern auch von skrupellosen Grundstücksmaklern die Almeria dem Erdboden gleichmachen wollen. Doch Julians Lebens- und Kampfgeist erwacht wieder...
In der spanischen Provinz Almeria, die Teil der autonomen Region Andalusien in Südspanien ist, spielt dieser Film von Alex de la Iglesia. Die einzige Wüste auf dem europäischen Kontinent, die Desierto de Tabernas, ist Schauplatz unzähliger Western: in den 60er und 70er Jahren drehten hier die Italiener, die Spanier und die Franzosen munter Western, die sich im späteren Verlauf deutlich von den amerikanischen Produktionen unterschieden. Da "800 Bullets" kein Italo-Western ist (dazu später mehr), möchte ich hier nur kurz auf den Italo-Western an sich eingehen. Während die de
utschen Winnetou-Filme hauptsächlich in Jugoslawien gedreht wurden, spezialisierten sich vor allem die Italiener auf das spanische Almeria - doch auch Bully Herbig drehte hier Teile seines Schuh des Mannitou und ist wirklich stolz darauf. Obwohl es immer wieder Ausnahmen gab (mancher Film wurde in Israel gedreht, spätere auch in Russland) griffen die Regisseur immer wieder auf die Filmstädte in Almeria zurück - auch als Texas Hollywood bezeichnet. Allein schon durch die extrem heisse Witterung bekamen viele Italo-Western, sobald sich das Genre vom amerikanischen Vorbild emanzipiert und nicht mehr in plumper Nachahmung versuchte, sondern sich auf seine eigene Stärke besann, einen speziellen Look und Feeling. Die (Anti-)Helden sind deutlich unsauberer, mit Stoppeln im Gesicht und Schweißperlen auf der Stirn. Allgemein kann man sagen, dass viele europäische Western gewalttätiger und nihilistischer als die US-Vorbilder sind. Aber da hier sicherlich noch einige Western von mir kommen werden, will ich es hierbei belassen.
Jedenfalls erlebt der Italo-Western momentan fast schon einen kleinen Aufschwung: neben den wundervollen DVD-Veröffentlichungen von Koch-Media, erschien in Thailand 2000 der fast-schon-Western "Tears of the Black Tiger", und der japanische Kultregisseur Miike hat jüngst "Sukiyaki Western Django" fertig gestellt, inkl. Cameo von Tarantino. Und gerade durch diesen Auftritt hoffe ich inständig, dass dieses großartige Filmgenre wieder mehr Aufmerksamkeit bekommt und sogar eventuell wiederbelebt wird. e-m-s hat nun Alex de la Iglesias Film "800 Bullets" als deutsche DVD veröffentlicht. Doch wie so häufig, obwohl ich das Label und seine Veröffentlichungen sehr schätze, greift die Firma bei der Vermarktung gleich mal daneben. Als kleine Notiz auf dem Cover wird als Genre "ACTION" angegeben, der Fließtext selbst spricht von einer "ungewaschene[n] Spaghetti-Western Parodie". Das ist, so leid es mir tut, nicht korrekt. Natürlich enthält der Film mehrere Actionszenen, natürlich ist er lustig und hat auch so manche Szene die aus einem Italo-Western stammen könnte. Jedoch ist die Einordnung in eines dieser Genres meiner Meinung nach immer noch falsch.
"800 Bullets" ist eine Tragikomödie und eine Hommage an den italienisch bzw. europäischen Western sowie eine Verbeugung vor dem Kino an sich. In die Rahmenhandlung der Wild-West-Stadt eingebunden ist die feinfühlige Geschichte der Annäherung von Carlos und seinem Opa Julian, die sich gegenseitig überhaupt nicht kennen. Julian, ein Überbleibsel einer vergangenen Ära, der immer wieder behauptet er hätte in Filmen wie "Patton" und "100 Gewehre" mitgespielt, er wäre mit Clint Eastwood befreundet und der den Tod von Carlos Vater nicht wirklich verarbeiten kann, trifft seinen Enkel, dem von seiner Mutter und Großmutter nie gesagt wurde, warum er wirklich keinen Vater und keinen Opa hat, der dann seinen verschollenen Opa trifft, ihm jedoch nicht glauben will, was er alles erlebt hat. Diese bittersüße Geschichte zweier Seelen ist einfach wunderschön erzählt, und der Zuschauer selbst hat es leicht, sich in die Figuren einzufühlen. Er weiss genauso wenig wie Carlos, ob er seinem Großvater Julian glauben soll, da dieser immer wieder als Lügner enttarnt wird. Und doch werden Julian und seine Gefährten als unglaublich sympathische Figuren gezeichnet, mit all ihren Stärken (der Glaube an diese Filme und ihre Zeit) und ihren Schwächen (dem Alkoholkonsum und der verblendeten Weltsicht). Wie gesagt, diese Stuntmen passen nicht mehr in diese Welt, obwohl man es ihnen wünschen würde.
Und zwischen dieser lustig-traurigen Geschichte, gewürzt mit so mancher Schiesserei und Stuntsequenz, streut Iglesia immer wieder Zitate ein, die wohl nicht nur aus dem Mund seiner Figur Julian stammen, sondern wohl genauso gut von ihm selbst hätten gesagt werden können. Carlos fragt seinen Großvater warum er keine Filme mehr dreht. Julians Antwort möchte ich hier nun zu Protokoll geben: "Hm, weil solche Filme heute nicht mehr gedreht werden. Ich meine richtig gute. Heute werden nur noch Filme für alte Frauen gemacht oder dieser Unfug mit den Spezialeffekten. Früher gab es welche über Römer und U-Boot-Filme. Die besten Filme waren Western! (...)". Und wenn dann schließlich die alten Männer in vollen Kostümen und zu heroischer Musik durch die Straßen einer modernen Großstadt reiten, und von Menschen aller Altersklassen beklatscht werden, dann ist dies sicherlich ein cinematisches Statement eines jungen Filmemachers. Und das Ende ist dann unglaublich schön und versöhnlich, ohne jedoch in Kitsch abzudriften.
Alex de la Iglesia selbst ist ein junger spanischer Regisseur und auch als Skandalnudel bekannt. Sein bekanntester Film dürfte wohl der sehr gewalttätige "Perdita Durango" sein. Auch in "800 Bullets" gibt es eine kurze Sequenz, die eigentlich nicht weiter wild ist, aber wohl für eine kleine Diskussion sorgen könnte, sollten die üblichen Verdächtigen den Film mal sehen. Mit "800 Bullets" liefert er einen wunderschönen Film ab, der auf einem nicht minder schlechten Drehbuch basiert, ebenfalls von Iglesia. Für die Kameraarbeit war Flavio Martínez Labiano verantwortlich, dem ein paar sehr memorable Einstellungen gelingen. Und bei den eigentlichen Italo-Western Szenen sieht man, dass Labiano und Iglesia ihre Hausaufgaben gemacht haben - der Zuschauer bekommt Bilder und Schnittfolgen zu sehen, die so auch ohne weiteres von den drei großen Sergios stammen könnten: Corbucci, Sollima und natürlich Leone. Untermalt wird das Geschehen vom Soundtrack aus der Hand von Roque Banos, der ein paar schöne Lieder zustande bringt, ich mir jedoch bei den Westernszenen ein paar mehr Remiszenzen an die Musik Morricones gewünscht hätte.
Bei den Darstellern kann vor allem Sancho Gracia als Großvater überzeugen. Er kommt wunderbar abgehalftert rüber, hat aber auch durch die deutsche Synchronstimme diese alte Weisheit und Würde, ohne jedoch den liebevollen Ton eines guten Opas zu verlieren. Der jüngste Darsteller, Luis Castro, spielt ebenfalls überzeugend, leidet jedoch unter der künstlichen deutschen Synchronstimme. Die restlichen Erwachsenenrollen sind jedoch deutlich besser gesprochen. Überhaupt muss man sagen, dass die Synchronisation sehr gelungen ist, und ein paar wunderbare Wortspiele und Witze aus dem spanischen herüber gerettet werden konnten. Applaus an e-m-s und das zuständige Synchronstudio. Als kleine Anmerkung am Rande: Julian, gespielt von Sancho Gracia, behauptet ja immer wieder, er wäre das Stuntdouble von Clint Eastwood, hätte in "100 Gewehre" mit Raquel Welch gespielt, und in Patton den Panzer gefahren. Und ein Blick in die imdb bestätigt: Gracia hat tatsächlich an der Seite der großen Raquel Welch in "100 Gewehre" aus dem Jahr 1969 gespielt! Diese immer wieder eingestreuten realen Bezüge freuen den Filmfan, stören den Otto-Normal-Filmschauer jedoch nicht (falls ein Otto-Normal-Konsument sich den Film überhaupt anschaut).
Der Film wird nun endlich nach 5 Jahren von e-m-s auf DVD veröffentlicht. Das Bild ist gut, wird jedoch keine Preise bekommen. Der Ton ist auch angenehm anzuhören, die spanische Tonspur hab ich jedoch nicht angetestet. Positiv sind jedoch die deutschen Untertitel beim spanischen Ton. Der Film ist ab 16 freigegeben, diese Freigabe geht aufgrund so manchem Blutverlust und der ein oder anderen Nudität in Ordnung. Dafür ist die DVD jedoch für so einen Nischenfilm sehr gut ausgestattet: bei den Specials sind neben dem obligatorischen Trailer zum Film und anderen Veröffentlichungen noch ein Making Of, Deleted Scenes, ein Alternatives Ende, ein Storyboard-Film-Vergleich, Interviews, Teaser und TV-Spots, eine Gallerie und Filmographien der Beteiligten gelistet. Ganz besonders hervorheben möchte ich noch das toll gestaltete Menü, dass mit seiner Farbgebung und Aufmachung nicht nur auf die Credits des Hauptfilms Bezug nimmt, sondern den Geist der damaligen Filme atmet, da deren Titelsequenzen auch so gestaltet waren. Danke an e-m-s für die Bereitstellung des Rezensionsexemplares!
Fazit: "800 Bullets" ist ein stellenweise wunderschöner Film, der jedoch neben der berührenden Geschichte auch genügend andere Schauwerte hat, um jeglichen Zuschauer bei Laune zu halten. Toll gefilmt, bewegend erzählt und eine hervorragende Verbeugung vor dem Kino präsentiert uns Alex de la Iglesia mit dieser nichtsdestotrotz leichtfüssigen Komödie. Menschen ohne Italo-Western-Erfahrung, bzw. Leute die diese Filme nicht mögen, können einen oder zwei Sterne abziehen, sehenswert bleibt der Film dennoch. Und an die Fans: Anschauen!