Es gibt eine ganz wunderbare Parodie auf „The West Wing“ von „Mad TV“: wir sehen Karikaturen von Josh und Donna, die sich gegenseitig komplizierte Sätze hin- und herwerfen, während sie in endlosen Runden durch das Weiße Haus laufen. Immer mehr Figuren kommen hinzu, reden und reden und reden, laufen immer schneller, bis sie auf Toby stoßen, der äußerlich in sich selbst ruht, aber kurz vor dem Explodieren steht. Letztendlich treffen sie auf Präsident Bartlet, der ihnen einen weisen Rat gibt und ein Sprecher beendet diesen Clip mit den Worten:
„The West Wing – you won't understand any of it except for the part about drinking and hookers, but you'll sense important things are happening, because there's lots of urgent walking and political jargon. And you'll feel smarter having watched that than Full House rewinds, that's for sure. The West Wing – on NBC.“
Wie bei jeder guten Parodie steckt auch in dieser völlig überzeichneten Szene ein gutes Stück Wahrheit über diese Serie. Man versteht (gerade als deutscher Zuschauer) bei weitem nicht alles, aber man fühlt sich nach einer Folge tatsächlich ein Stück klüger. Denn „The West Wing“ ist nicht nur spannend und witzig zugleich, sondern tatsächlich eine der intelligentesten Serien die es geben dürfte.
„The West Wing“ erzählt pro Folge in circa 45 Minuten aus dem Leben verschiedener Angestellter im Weißen Haus. Mittelpunkt der Serie ist der Stab des amerikanischen Pr
äsidenten Josiah Bartlet. Sein „Chief of Staff“ Leo McGarry und der „Deputy Chief of Staff“ Josh Lyman koordinieren die Arbeit der restlichen zentralen Figuren wie etwa Toby Ziegler, dem „Communications Director“, Sam Seaborn, dem „Deputy Communications Director“, sowie C.J. Cregg als „Press Secretary“. Der amerikanische Präsident ist also bei weitem nicht die Hauptfigur der Serie, vielmehr stehen seine engsten Mitarbeiter hinter den Kulissen, die „den Laden am Laufen halten“, also im Zentrum des Interesses. Dazu stoßen im Verlauf der Serie noch weitere Personen, so etwa Will Bailey und Charlie Young als „Personal Aid“ für den Präsidenten. Nur selten werden die Figuren der Serie außerhalb ihres Arbeitsumfeldes in Washington gezeigt. Und doch ist nicht nur Politik der Dreh- und Angelpunkt der Serie, vielmehr vergisst sie niemals ihre Charaktere, deren Innenleben und ihre Beziehungen untereinander, und das obwohl wie gesagt nur selten Privatleben gezeigt wird. Dieser Kniff lässt sich in der größten Stärke der Serie begründen: ihrer Drehbücher.
Kreativer Kopf hinter diesen und hinter der gesamten Serie ist Aaron Sorkin. Ebenfalls aus seiner Feder stammt das Drehbuch zu „Hallo, Mr. President“, so dass das Szenario ihm nicht ganz fremd war. Aus nicht benutzten Ideen und Motiven dieses Films entstand dann „The West Wing“ und avancierte zu der Serie, die die meisten Emmys für die erste Staffel bekam – 9 Auszeichnungen gingen an sie, insgesamt erhielt die Serie 27 Emmys über ihre Laufzeit. Bis Sorkin die Serie verließ, schrieb er die meisten Drehbücher selbst, und zusammen mit der Regie und der Kameraarbeit erfand die Serie quasi noch eine neue Art und Weise, Dialoge zu Filmen: in sogenannten „walk-and-talk“ Shots, die eben auch von Mad TV parodiert werden, spielt sich in jeder Folge enorm viel Exposition ab. Anstelle Dialoge langweilig in Schuss-Gegenschuss zu filmen, laufen die Figuren durch Gänge, reden dabei, einer verlässt das Gespräch, ein neuer kommt hinzu, und so weiter und so fort. Dadurch erreichen die Unterhaltungen eine enorme Dynamik, sind wunderbar anzuschauen, und man kann die detailreichen und scheinbar riesigen Sets bewundern, da diese Textmassen meistens ohne Schnitt gefilmt werden. Dies federt auch die enorme Redelastigkeit der Serie ab.
Dabei verweigert sich „The West Wing“ auch kaum kritischen Themen, sowohl in den einzelnen Episoden, als auch in der Gesamtkonzeption. Schon bei der Figur von Präsident Bartlet beweisen Sorkin und sein Team ungeheuren Mut: nicht nur, dass der amerikanische Präsident Raucher ist, sondern er raucht nicht etwa edel Zigarren unter Gentlemen, sondern ganz normale Zigaretten! Das mag eine Kleinigkeit sein, ist aber in der amerikanisch Film- und Fernsehlandschaft durchaus bemerkenswert. Viel wichtiger, auch für die overall-storyarch ist aber eine Enthüllung im Laufe der ersten Staffel. Präsident Bartlet ist an Multipler Sklerose erkrankt, was immer wieder zu menschlichen und politischen Verwicklungen in weiteren Episoden führt. Diese ernste Krankheit wird aber weniger für melodramatische Effekte benutzt, als vielmehr um ihn menschlich zu zeichnen. Auch ein Präsident muss sich – wie jeder – auf andere Menschen verlassen können. Durch die Krankheit verliert er jedoch nicht notwendigerweise seine Kompetenz, wie es noch eine andere, bemerkenswerte Figur in der Serie tut: Oscarpreisträgerin Marlee Matlin hat eine immer wiederkehrende Rolle als Joey Lucas, die als „Pollster“ (also Umfragen und Erhebungen durchführt) für die Bartlet-Regierung arbeitet. Nicht nur ist sie wichtiger Bestandteil des Teams, sondern auch als private Figur tatsächlich eine Frau mit einer Behinderung
und sexueller Attraktivität. Joey Lucas ist nämlich – genau wie Matlin selbst – gehörlos; daher benötigt sie in der Serie ihren Übersetzer Kenny Thurman, was natürlich bei romantisch-zwischenmenschlichen Szenen für Probleme sorgen kann. Insofern zeichnet „The West Wing“ bei beiden Figuren ein realistisches, und eben kein verkitschtes Bild eines Lebens mit einer Behinderung; sowohl mit Kompetenzen als auch negativen Seiten.
Ebenso scheut die Serie auch nie davor zurück, höchst komplexe und kontroverse Themengebiete anzusprechen, und dadurch den Zuschauer zum Nachdenken anzuregen. Wirtschaftliche Themen wie die Globalisierung werden genauso diskutiert wie geopolitische Entscheidungen, verfassungsrechtliche Fragen, geschichtliche gewachsene Diplomatie oder auch die Todesstrafe – zahllose Gebiete werden behandelt. Und obwohl sich „The West Wing“ auch den Vorwurf des „The Left Wing“ anhören muss, erscheint dieser unzulässig: die Bartlet-Administration kommt nun einmal aus dem Lager der Demokraten, würde sie republikanische Ziele verfolgen, wäre sie unglaubwürdig. Genauso bietet die Serie aber selten einfache Lösungen an, fast immer kommen alle beteiligten Seiten zur Sprache, und auch wenn scheinbar der Stab des Präsidenten die ultimative Lösung erarbeitet hat, gibt es genauso gut die Möglichkeit, dass erneut ein nachvollziehbares Gegenargument kommt; der Zuschauer bekommt keine vorgekauten Lösungen präsentiert, vielmehr muss er selbst über die Dinge nachdenken. Und den Zuschauer allein durch das Verfolgen einer inszenierten Debatte im Rahmen einer Fernsehserie anzuregen ist schon einmal eine größere Leistung als bei 90% der restlichen Serien.
Zwischen all diesen schwergewichtigen Themen schafft „The West Wing“ scheinbar spielerisch den Spagat zwischen Dramatik, Politik, einem gewissen „Thrill“ im Sinne von Spannung sowie dem fantastischen Humor. Richtig gelesen, diese Serie über den amerikanischen Präsidenten und seinen Stab ist szenenweise zum Brüllen komisch, selbst wenn das vorherrschende Thema einer Episode eigentlich sehr ernst ist. Da muss ein Teil des Stabes sich um eine Krise kümmern, weil die iranische Luftwaffe ein britisches Verkehrsflugzeug abgeschossen hat, während Toby Ziegler das Problem hat, dass er sich nicht nur mit einem neugierigen Journalisten auseinandersetzen muss, sondern auch noch Besuch der amtierenden Miss World erwartet – auf die sich natürlich besonders die männliche Belegschaft freut. Zwischen diesem einerseits spannenden, andererseits humorvollen Handlungsstrang webt das Team noch eine dieser typischen „politisch/juristischen Vorlesungen“ ein, als es um die Frage einer präsidialen Verfassung für Weißrussland geht – in typischer West-Wing-Manier nicht etwa langweilig vorgekaut, sondern vernünftig und nachvollziehbar präsentiert, und mit verschiedenen Positionen die zur Sprache kommen dürfen.
Getragen wird die Serie nicht nur von Aaron Sorkin und seinem großartigen Team von Autoren und Beratern, sondern darüberhinaus auch noch von einem famosen Cast. Die bekanntesten Namen im Stammcast dürften sicherlich Rob Lowe als Sam Seaborn sein, sowie – natürlich – Martin Sheen als Präsident Bartlet. Doch auch die unbekannteren Gesichter überzeugen vollends in ihren Rollen. Ein Bradley Whitford als Josh Lyman harmoniert herausragend mit einer Janel Moloney als seine Sekretärin Donna Moss; Allison Janney als C.J. hat immer ein zwinkerndes Auge für die Presse übrig, während John Spencer aka Leo McGarry sein Team als „Chief of Staff“ zusammen hält. Immer wieder geben sich zahllose Gaststars die Klinke in die Hand: Ed O'Neill, Emily Procter, Christian Slater, Oliver Platt, Danica McKellar, Terry O'Quinn, Annabeth Gish, Adam Arkin, John Goodman, Armin Müller-Stahl, Matthew Perry, Jay Mohr – die Liste ist wahrlich endlos!
Sicherlich, es gibt auch kleinere Kritikpunkte. So mancher Handlungsstrang versackt manchmal im Nirgendwo eines Episodenendes, doch dies lässt sich auch in der Konzeption begründen: im Weißen Haus steht nun einmal jede Woche, jeden Tag, jede Stunde etwas anderes an; „
What's next?“, wie Präsident Bartlet immer wieder sagt. Das größte Problem von „The West Wing“ dürfte aber aus zwei Worten bestehen, die da wären: „Two Cathedrals“. „Two Cathedrals“ ist der Titel der letzten Folge der zweiten Staffel, und stellt wohl den unerreichten Höhepunkt der Serie (und eventuell auch aller Serien, so nennt sie Martin Sheen die beste jemals gezeigte Folge einer Fernsehserie) dar. Für drei Emmys nominiert gewann sie zwei davon, ebenso den Humanitas-Award. Die Brillanz dieser Folge erreichte die Serie nie mehr, doch sie daran zu messen wäre unfair; selbst der Rest ist überwiegend noch auf einem unerreichbar hohen Niveau für andere Serien, sowohl was Drehbuch als auch Cast sowie technische Ausführung angeht. Denn spätestens ab Staffel 3, wenn die Serie im Breitbildformat ist, hat sie qualitativ kaum noch etwas mit „normalem“ Fernsehen zu tun.
Insofern ist – zumindest für mich – Aaron Sorkins „The West Wing“ die beste Serie, die ich jemals gesehen habe. Ein grandioser Cast, der fantastische Drehbücher mit einwandfreier Inszenierung vortragen darf; dazu intelligent, witzig, emotional, hochspannend; lehrreich und nachdenklich; selten platt; was will man mehr? Die Superlative gehen aus. Eine Serie, die Lust auf Politik macht, Diplomatie begreiflich werden lässt, selbst wenn die Probleme noch so banal erscheinen. Dabei vergisst sie niemals die Menschen, die dort arbeiten, und wenn man dann noch die Folge „Isaac and Ishmael“ in Betracht zieht, merkt man wirklich, welch großes Werk man vor sich hat. Dies ist die 0. Folge der dritten Staffel. Innerhalb von 2 Wochen nach dem elften September geschrieben und gedreht, besucht eine Schulklasse das Weiße Haus und sieht sich dort auf einmal aufgrund eines möglichen Anschlages unter „Quarantäne“ gestellt. Was folgt sind verschiedene Fragen an den Stab des Weißen Hauses, die von diesem (und damit Aaron Sorkin und seinem Team) in unterschiedlichsten Weisen beantwortet und diskutiert werden. Natürlich fehlt ihr die geschliffene Eleganz anderer Folgen; doch ist sie ebenso zutiefst ehrlich, menschlich, und eben nicht „einfach“.
Und damit – wie die Serie – ganz großes TV.